ERLESEN

Interview: Wir sollten aus der Pandemie lernen, um wichtige Entwicklungen zu beschleunigen

Corona verstärkt und beschleunigt den strukturellen Wandel in der Wirtschaft. Elisabeth Winkelmeier-Becker (Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie) und BDU-Präsident Ralf Strehlau sprachen darüber, wie Bundesregierung und BMWI die Unternehmen bei der Transformation unterstützen.

Ralf Strehlau: Zu Beginn eine persönliche Frage: Was glauben Sie, wird auch nach der Pandemie bleiben? Weniger Dienstreisen? Kein Händedruck mehr?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Ich bin mir sicher, dass nach der Corona-Krise wieder mehr Hände geschüttelt werden und es viele persönliche Treffen gibt. Digitale Formate können persönliche Begegnungen nicht ersetzen. Gleichzeitig bleiben aber auch positive Erfahrungen: Digitale Treffen machen manche lange Dienstreisen überflüssig, die Arbeit im Homeoffice erspart unnötiges Pendeln und Bürozeiten. Es wird strukturelle Veränderungen in unseren Städten geben, aber gleichzeitig auch neue Chancen für Umlandgemeinden und den ländlichen Raum. Ja, diese Krise wird Wandel mit sich bringen. Wir sollten auch positiv auf diese Entwicklungen schauen.

 

Ralf Strehlau: Zahlreiche Unternehmen haben infolge der angeordneten Schließungen massive Umsatzeinbrüche erlitten. Ihrem Ministerium wird vorgeworfen, dass es dann trotzdem Wochen und sogar teilweise Monate gedauert hat, bis die versprochenen Hilfen angekommen sind. Warum hat das so lange gedauert?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Hier ging es zum einen darum, in kürzester Zeit eine möglichst passgenaue Regelung für eine große Vielzahl ganz unterschiedlicher Unternehmen zu erarbeiten. Hier können nicht alle - vom Soloselbständigen, über Mischbetriebe aller Art bis zur großen Hotelkette - über einen Kamm geschoren werden. Hierzu gab es auch viele Vorschläge aus der Praxis der Verbände und aus dem Parlament, die geprüft werden mussten. Sodann musste ein völlig neues Verwaltungssystem aufgesetzt werden. Von keinem Betrieb lagen Stammdaten zu Berechtigten, zu Umsätzen und Kosten oder auch nur Kontodaten vor, auf Daten der Finanzämter konnte mangels Zustimmung des Finanzministeriums nicht zugegriffen werden. Es wurde daher eine digitale Plattform neu entwickelt, die auf keinerlei Erfahrungen oder vorhandene Strukturen aufsetzen konnte.

Es ist absolut nachvollziehbar, dass viele existenziell betroffene Unternehmen noch schnellere Hilfe dringend erwartet haben; auf der anderen Seite ist die Zeit von jeweils nur wenigen Wochen, bis Anträge gestellt und zumindest Abschläge angewiesen werden konnten, sehr kurz bemessen. Nur zum Vergleich: für die Einführung einer Grundrente - auf die die Bezieher kleiner Renten ebenfalls dringend warten - nimmt sich der Bundesarbeitsminister ein Jahr Zeit. Dabei sind dort die Betroffenen mitsamt Adresse und Kontonummer bereits alle in der Datei vorhanden.

 

Ralf Strehlau: Die Corona-Pandemie hat Schwachstellen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft offengelegt, bei denen schnell und effizient Abhilfe geschaffen werden muss. Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf für Ihr Bundesministerium – sowohl nach innen als auch nach außen?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Die Corona-Pandemie hat uns alle vor große Herausforderungen gestellt. Fast überall mussten wir uns auf neue Abläufe und Technologien einstellen. Die wohl größte Bedeutung hat die Digitalisierung, die noch stärker als vorher in alle Bereiche unseres Lebens Einzug erhält. An vielen Stellen sind wir aber auch an unsere Grenzen gekommen und auch heute – ein Jahr nach Beginn der Pandemie – sind wir dort teilweise immer noch nicht gut genug aufgestellt. Eine ganz große Baustelle sind sicherlich die Schulen, die sehr großen Aufholbedarf haben. Aber auch weite Teile unserer Wirtschaft und schließlich die öffentliche Verwaltung haben ganz klar aufgezeigt bekommen, wo die Schwachstellen liegen. Das BMWi unterstützt – im Übrigen auch bereits schon vor der Pandemie – gerade kleine und mittelständische Unternehmen dabei, mit der Digitalisierung Schritt zu halten, beispielsweise mit dem Programm „Digital Jetzt“.

Ein weiterer Aspekt ist die beschleunigte Transformation in einigen Branchen, wie zum Beispiel dem Handel und der Automobilwirtschaft. Mit dem Runden Tisch Innenstädte oder dem Transformationsdialog Automobilindustrie adressieren wir diese Entwicklungen. Bei allen Herausforderungen liegt in der Pandemie auch eine riesige Chance, auf ohnehin bevorstehende Veränderungen frühzeitig zu reagieren. Auch wesentliche Ordnungsrahmen haben wir modernisiert. Zu nennen sind da zum Beispiel die Novelle des Telekommunikationsgesetzes oder des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.

 

Ralf Strehlau: Die Digitalisierung hat im letzten Jahr einen enormen Schub erhalten und gleichzeitig das Ungleichgewicht speziell im Handel dramatisch verschärft. Benötigen wir neue Denkansätze jenseits der Plattform-Ökonomie, um künftig wieder einen faireren Wettbewerb zu ermöglichen?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Die digitale Vernetzung von Händlerinnen und Händlern mit ihren Kundinnen und Kunden ist sicher ein wichtiger Teil einer zukunftsgerechten Handelsstrategie, das hat die Corona-Pandemie noch einmal sehr deutlich gemacht. Dafür können Plattformen grundsätzlich eine gute Möglichkeit sein. Entscheidend ist die Ausgestaltung dieser Plattformen: Die auf beiden Seiten bestehenden Zugangshürden müssen soweit abgebaut werden, dass sich die unterschiedlichen Vertriebswege sinnvoll ergänzen können und der stationäre Handel nicht abgehängt wird. Qualifizierte Beratung vor Ort und einfache Verfügbarkeit online schließen sich nicht aus. Regionalität gewinnt auch im Onlinehandel an Bedeutung. Auf diese Bedürfnisse müssen wir eingehen, die Chancen der Digitalisierung wahrnehmen, damit sie nicht zum Grund für weiteres Ladensterben und verödete Innenstädte wird. Um Ansätze zu finden und bekannt zu machen, wie die Digitalisierung helfen kann, den innerstädtischen Handel und das Innenstadtleben allgemein zu beleben, hat Bundesminister Altmaier im Oktober einen runden Tisch einberufen, an den sich aktuell fachspezifische Workshops anschließen. So stehen wir als BMWi in einem intensiven Austausch mit Kommunen, Handelsfachleuten und anderen Expertinnen und Experten und unterstützen die Vernetzung der Akteure.

 

Ralf Strehlau: Der Wohlstand ist in Deutschland eng mit der Automobilindustrie verknüpft. Die Vorzeigebranche befindet sich aber nicht erst seit Beginn der Pandemie in der Krise. Bekommen wir hier noch „die Kurve“? Und: In welchen Wirtschaftszweigen sehen Sie die besten Perspektiven, um eine neue Erfolgsgeschichte zu schreiben?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Aktuell müssen sich die Unternehmen der Automobilindustrie neuen Herausforderungen stellen, die nachhaltige strukturelle Veränderungen mit sich bringen werden. Teilweise wird diesen Änderungen disruptives Potential zugemessen. Dabei handelt es sich um die durch verschärfte Umweltregulierung angereizte Umsteuerung hin zu Fahrzeugen mit alternativen Antrieben sowie um technologische Innovationen, die das weitgehend automatisierte oder gar autonome Fahren erlauben. Gleichzeitig ermöglichen die Trends der Digitalisierung und Vernetzung völlig neue Geschäftsfelder auf der Basis der vom Fahrzeug erfassten Daten und gestatten die Integration bislang isolierter Transportleistungen zu ganzheitlichen Mobilitätsangeboten. Diese und andere Entwicklungen werden die automobilen Wertschöpfungsketten in den nächsten Jahren deutlich verändern und neue Geschäftsmodelle werden sich etablieren. Die deutsche Automobilindustrie geht diesen Strukturwandel aktiv an und befindet sich auf einem guten Pfad die Veränderungen für sich zu nutzen. So haben sich in 2020 die Neuzulassungen von Pkw mit alternativen Antrieben gegenüber dem Vorjahr fast verdreifacht und die deutschen Automobilhersteller haben einen erheblichen Anteil daran. Die Bundesregierung unterstützt und begleitet den Transformationsprozess mit umfangreichen Förderprogrammen. Zu nennen sind hier besonders die Erhöhung des Umweltbonus für Elektro-Pkw und das Förderprogramm „Zukunftsinvestitionen für Fahrzeughersteller und Zulieferindustrie. Mit den IPCEI-Förderprogrammen zur Batteriezellproduktion sorgen wir dafür, weiterhin die ganze Wertschöpfungskette am Standort Deutschland zu halten.

Was die Perspektiven der Wirtschaftszweige in der Industrie anbelangt, ist das Geschäftsklima derzeit am positivsten in den Bereichen optische Instrumente und Laser, datenverarbeitende Geräte, elektronische und optische Erzeugnisse sowie elektrische Ausrüstungen. Erfolgsgeschichten werden wir in den nächsten Jahren in allen Industriebranchen sehen. Wer sie schreiben wird, darüber wird der Markt entscheiden.

 

Ralf Strehlau: Die Wirtschaftsministerien der EU-Mitgliedstaaten tauschen sich im Europäischen Rat regelmäßig aus. Was schätzen die Europäer: Wann kommen die Volkswirtschaften wieder auf das Niveau von vor der Krise?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Die Corona-Pandemie stellt einen großen Schock für die europäischen Volkswirtschaften dar. Das EU-Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahr um über 6 Prozent eingebrochen und damit stärker als in der Finanzkrise. Viele Mitgliedstaaten sind aufgrund gestiegener Inzidenzahlen zudem zunächst schwach in das Jahr 2021 gestartet. Mit voranschreitenden Impfkampagnen dürfte die Erholung aber an Fahrt gewinnen. So erwartet die Europäische Kommission in ihrer jüngsten Prognose ab der zweiten Jahreshälfte eine deutlich kräftigere Wachstumsdynamik. Die EU könnte demnach das Vorkrisenniveau ihrer Wirtschaftsleistung voraussichtlich Mitte 2022 erreichen. Gleichzeitig ist aber für einzelne Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu rechnen, was unter anderem auf die jeweiligen Branchenstrukturen und verschiedenen Pandemieverläufe zurückzuführen ist. Die möglichen Wachstumseffekte des europäischen Aufbauinstruments Next Generation EU sind in diesen Erwartungen bisher nur in geringen Umfang berücksichtigt. Eine rasche Umsetzung und ein schneller Einsatz der Mittel in den Mitgliedstaaten können die Erholung also zusätzlich vorantreiben.

 

Ralf Strehlau: Nach Einschätzung des DIHK hat die Pandemie auch dazu geführt, dass die Zahl der Unternehmensnachfolgen zurückgehen. Durch die wirtschaftlichen Folgen wird die Attraktivität von Unternehmensverkäufen sinken, vor allem im Handel. Wie kann die Politik hier helfen?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Auch wir nehmen wahr, dass durch die Pandemiesituation und die daraus resultierenden akuten Probleme Nachfolgeüberlegungen bei den Unternehmen, zumindest temporär, in den Hintergrund gerückt sind. Aber: der Trend über die letzten Jahre zeigt, die mittelständischen Unternehmen sind immer besser auf den Nachfolgeprozess vorbereitet. Die größte Herausforderung bei der Unternehmensnachfolge ist, dass wir eine „Nachfolgelücke“ haben, also zu wenige Übernahmegründerinnen und -gründer. Hier setzt gerade die Initiative „Unternehmensnachfolge – aus der Praxis für die Praxis“ des BMWi mit bundesweit 30 Modellprojekten an. Mit innovativen Ideen sollen neue Zielgruppen für eine Unternehmensnachfolge gewonnen werden. Zudem haben sich Bund und Länder Ende letzten Jahres in ihrem gemeinsamen Programm für eine leistungsstarke, bürger- und unternehmensfreundliche Verwaltung darauf verständigt, Handlungsempfehlungen für Rechtsvereinfachungen bei Unternehmensnachfolgen zu erarbeiten. Auch so soll die Attraktivität von Nachfolgegründungen gesteigert werden.

 

Ralf Strehlau: Seit weit über einem Jahrzehnt unterstützt der BDU die Nachfolgebörse "NEXXT" von BMWi und KfW sehr erfolgreich. Welche Planungen hat Ihr Haus mit der Börse für die kommenden Jahre?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Als bundesweites, kostenloses Angebot und als die größte Unternehmensnachfolgebörse Deutschlands leistet nexxt-change einen wichtigen Beitrag zu erfolgreichen Unternehmensnachfolgen in Deutschland. Seit dem Start im Jahr 2006 wurden auf der Online-Unternehmensbörse über 18.000 Vermittlungen erfolgreich angestoßen.

Corona-bedingt hat es seit dem Beginn des 2. Quartals 2020 einen negativen Trend bei der Anzahl der neu eingestellten Inserate gegeben. Daher, aber insbesondere auch, um nexxt-change über die Corona-Pandemie hinaus zu einem noch attraktiveren Matching-Werkzeug für Unternehmensübergebende und ‑übernehmende zu machen, ist ein Relaunch der BMWi-/ KfW Unternehmensbörse in Planung.

 

Ralf Strehlau: Ein Wort auch zu unserer eigenen Branche. Die Bundesbehörden werden regelmäßig dafür kritisiert, zu häufig externe Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Bundesfinanzminister Scholz stellte vor kurzem klar: Externe Berater würden nur beauftragt, wenn dies wirtschaftlich sei. Zudem würden die Aufträge regelmäßig vom Bundesrechnungshof überprüft und seien im Ergebnis durchgängig positiv zu bewerten. Auch aus Sicht des BDU ist Beratung zwingend nötig, wenn Veränderungen angestoßen werden müssen, das geht nicht von innen heraus. Welchen weiteren Nutzen kann externe Beratung für Bundesbehörden haben?

Elisabeth Winkelmeier-Becker: Die Bundesregierung hat den Anspruch, ihre Entscheidung auf der Grundlage aktuellen und fundierten Wissens zu treffen. Externe Beratung leistet dazu einen wichtigen Beitrag, indem Sie aktuelle Expertise zur Verfügung stellt.

Angesichts der Komplexität des politischen Geschäfts kann externe Politikberatung für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik bisweilen unvermeidbar sein. Die Hinzuziehung externer Expertise kann in manchen Fällen auch aus Wirtschaftlichkeitsgründen gegenüber dem dauerhaften Vorhalten eigener personeller Ressourcen vorzugswürdig sein. Dies gilt insbesondere bei einem Bedarf für kurzfristige und besonders spezialisierte Beratung. Außerdem braucht es manchmal den unabhängigen Blick von außen, zum Beispiel bei der Evaluation von Förderprogrammen oder unabhängigen wissenschaftlichen Expertisen.

Der Einsatz externer Beratung muss aber der Ausnahmefall sein. Dauerhaft bestehender Beratungsbedarf muss mit eigenem Personal gedeckt werden. Auch Kernaufgaben der Verwaltung, wie z.B. die Rechtsetzung selbst, dürfen nicht ausgelagert werden. Zudem sollten langfristige vertragliche Abhängigkeiten vermieden werden. Der Bundesrechnungshof mahnt auch deshalb zu Recht wettbewerbliche Verfahren zur Auswahl externer Berater an.

 

Ralf Strehlau: Sehr geehrte Frau Winkelmeier-Becker, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!

 

© Foto Winkelmeier-Becker: Rene Schwerdtel

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