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Interview: Unternehmensberater sind Impulsgeber für den digitalen Kulturwandel

Gero Furchheim vertritt als Präsident des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel (bevh) eine innovative Vorzeigebranche und ist selbst als Vorstand der Cairo AG - einem Omnichannel-Händler für Designer- und Büromöbel, Leuchten und Accessoires - erfolgreicher Unternehmer. Mit BDU-Präsident Ralf Strehlau sprach er unter anderem über die digitalen Veränderungen für die Unternehmen in diesem Markt sowie die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Interessenvertretung.

Ralf Strehlau: E-Commerce ist eine innovative Branche und ein Wachstumsmarkt. Welche Trends erwarten Sie demnächst als Unternehmer und als bevh-Präsident?

Gero Furchheim: E-Commerce ist tatsächlich der Wachstumsmotor des deutschen Einzelhandels. Wir hatten vom Jahr 2015 auf 2016 ein Wachstum im interaktiven Handel insgesamt – also E-Commerce und klassischer Versandhandel – von 12 Prozent und für das gerade abgelaufene Jahr erwarten wir ein Wachstum von 11 Prozent. Wir gehen von einer dauerhaft positiven Entwicklung aus. In den nächsten 30 Jahren rechnen wir mit einem Paradigmenwechsel im Einzelhandel. Im Jahr 2047 werden alle wertschöpfenden Prozesse als Grundlage digitale Prozesse haben und die E-Commerce- Quote bei 100 Prozent angekommen sein. 

 

Ralf Strehlau: Das heißt, die Customer Journey wird primär digital getrieben sein und der stationäre Handel ist ein Teil dieses Prozesses, steht aber nicht im Mittelpunkt wie früher?

Gero Furchheim: Der stationäre Handel kann schon ein Erlebnispunkt sein, aber es wird selbstverständlich sein, dass beispielsweise Produkte in meiner Größe schon vorausgewählt sind, wenn ich im Geschäft eintreffe oder dass ich Informationen im selbstfahrenden Auto auf dem Weg dorthin bekomme und natürlich, dass Waren nach Hause geliefert werden.

 

Ralf Strehlau: Sie sprechen indirekt Spracherkennungssysteme an. Wenn in ein bis zwei Jahren schon mehr als 50 Prozent aller Suchanfragen darüber kommen, wird in fünf bis zehn Jahren die Tastatur in der Customer Journey nicht mehr relevant sein. Ist Voice als Schnittstelle zum Kunden das nächste „Big thing“? 

Gero Furchheim: Im Übergang zu digitalisierten Prozessen ist das Interface zwischen Mensch und Computer von entscheidender Bedeutung. Spracherkennung eröffnet dort völlig neue Wege. Wir können uns noch gar nicht vorstellen, was in Zukunft die Interaktion zwischen Mensch und Maschine auch bezüglich der Sensorik alles bringen wird. Der 3D-Druck eröffnet weitere Möglichkeiten.

 

Ralf Strehlau: Stichwort Innovationen. Wie fängt der bevh die Signale des Marktes ein? 

Gero Furchheim: Wir führen eigene Studien durch, vor allem eine groß angelegte Verbraucherstudie, in der wir über 40.000 Konsumenten jedes Jahr zu ihren Einkaufserlebnissen befragen. Darüber hinaus untersuchen wir Spezialfragestellungen, die jährlich in einem großen Kompendium veröffentlicht werden. Gemeinsam mit dem BDU haben wir zum Beispiel eine Studie zur Personalsuche im E-Commerce durchgeführt. In Gruppen haben wir Studienreisen zu den Markttreibern nach China, Japan und in die USA unternommen. Unsere nächste Reise führt uns nach Israel, wo wir uns die Start-up-Szene anschauen wollen. Außerdem sind wir in unseren Arbeitskreisen und Veranstaltungen im Austausch mit den Kollegen neuen Trends und Herausforderungen auf der Spur.

 

Ralf Strehlau: Welchen Top-Herausforderungen muss sich der Online Handel in den nächsten Jahren stellen?

Gero Furchheim: Das ist erstens der Umgang mit der Plattformökonomie, also Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook oder Apple. Zweitens, das Ringen um die Datenhoheit. In einer Welt, in der wir viele Serviceleistungen als Endverbraucher mit unseren Daten bezahlen, muss es den Händlern wichtig sein, die Hoheit über die selbstgewonnenen Daten zu behalten, weil sie die Grundlage für alle Optimierungen der Zukunft darstellen. In einer sich deutlich verändernden Marktumgebung müssen strategisch denkende Unternehmen eine Positionierung finden, um Zugang zu Daten zu bekommen.
Drittens sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für unsere Branche enorm wichtig. Wir streben ein "level playing field" an. Weitere Punkte sind der Datenschutz oder die steuerliche Ungleichbehandlung einer internationalisierten Branche, die im Wettbewerb beispielsweise mit chinesischen Herstellern steht, die beim Import in die EU oft die Umsatzsteuerpflicht umgehen.

 

Ralf Strehlau: Ihr Verband will also auch politisch etwas für die Branche bewirken. Mit Amazon haben Sie ein Mitglied, das sich mit der Anpassung an europäische Rahmenbedingungen schwer tut und durch seine Struktur faktisch Steuerhinterziehung ermöglicht. Wie gehen Sie damit um im bevh?

Gero Furchheim: Der bevh plädiert für einen fairen Umgang mit den Plattformen. Zu einem level playing field gehört das Einhalten von Gesetzen und Steuerpflichten und wir wollen, dass alle Marktteilnehmer ihre Beiträge leisten. Die Frage ist, wie weit die Nutzer der Plattformen, die als Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird, Steuern hinterziehen. Da stellen wir ein Vollzugsdefizit in Deutschland fest, obwohl die Regeln über höchstrichterliche Urteile klar aufgestellt sind. Das heißt, die Plattformen stellen die Daten selbstverständlich zur Verfügung, aber Gerichte und Staatsanwaltschaft in Deutschland sehen oft keine Erfolgspotenziale in der Vollstreckung bis nach China. 

 

Ralf Strehlau: Also versteht sich der bevh vor allem als Vorkämpfer für die Interessen seiner Mitglieder?

Gero Furchheim: Selbstverständlich. In Verbänden wird gesamtgesellschaftliche Verantwortung gelebt. Wir nehmen in vielen Bereichen Einfluss auf unsere Mitglieder, z. B. bei Themen wie Nachhaltigkeit oder Personalentwicklung und wir sprechen in internen Kreisen an, welche Beiträge wir uns von unseren Mitgliedern erhoffen.


Es gab in der Vergangenheit und gibt auch weiterhin Fälle, in denen wir problematische Entwicklungen zwischen den im Verband vertretenen Gruppen thematisieren. Zum Beispiel, als Plattformen vor geraumer Zeit versucht haben, den Plattformnutzern - also den Händlern - vorzuschreiben, dass sie auf der Plattform immer ihren günstigsten Preis anbieten müssen. Dort haben wir uns klar positioniert, denn das gefährdet das Prinzip des freien Handels und des fairen Wettbewerbs. Ansonsten sind nur ganz vereinzelt Feindbilder inhaltlich wirklich fundiert.

 

Ralf Strehlau: Wenn Sie die Unternehmen im Markt für E-Commerce vergleichen. Was machen die Top Performer besser als die Low Performer?

Gero Furchheim: Der entscheidende Unterschied ist, ob man den Kulturwandel, den Digitalisierung bedeutet, wirklich lebt, und zwar in der Auseinandersetzung mit Geschäftsmodellen, die heutzutage erfolgreich sind. Da geht es um Fragen des Fehlermanagements, des Recruitings, der Customer Centricity. Berater helfen Unternehmen, einen solchen Kulturwandel erfolgreich zu implementieren. Da gibt es in unserem Verband hervorragende Beispiele.

 

Ralf Strehlau: Also könnte man sagen, Top Performer nehmen Impulse von außen auf, während Low Performer das „not invented here“- Syndrom pflegen und nicht offen sind für die Ideen, die von Kollegen, Beratern, Agenturen oder Marktforschern kommen?

Gero Furchheim: Ja, diese Aussage trifft es genau. Low Performer igeln sich ein und verhängen ihr Schaufenster. Eigene Wege im Umgang mit Veränderungen findet man aber gerade durch die Auseinandersetzung mit neuen Ideen und Ausprobieren. Ohne Impulse von außen bekommen Sie so einen Kulturwandel nicht dargestellt.

 

Ralf Strehlau: Roland Berger sagte mir vor ein paar Monaten im Interview, im B2C Geschäft habe Europa den Wettlauf gegen die USA und Asien verloren. Sehen Sie das auch so?

Gero Furchheim: Es ist eindeutig so, dass die wichtigsten Marktveränderer und Treiber tatsächlich ihren Ursprung in den USA haben. Im Vergleich zu Deutschland mit 12,7 Prozent E-Commerce-Anteil im Einzelhandel insgesamt, liegen die USA aber nur bei 8,2 Prozent E-Commerce-Anteil. Das heißt, wir sind vielleicht nicht der stärkste Markt in der Entwicklung aber sehr erfolgreich bei der Umsetzung.

 

Ralf Strehlau: Welche Trends sehen Sie, die aus Übersee kommen?

Gero Furchheim: In Japan haben wir auf Studienreisen spannende Beobachtungen gemacht. Ich nenne die Organisation von Plattformgeschäften wie Rakuten, rein als Dienstleister für die Händler, nicht in einer eigenen Handelsfunktion mit einem individuellen Service. In China haben wir einen Riesenmarkt, der staatlich stark gelenkt wird. Hier beobachten wir, dass Geschäftsmodelle unter voller staatlicher Kontrolle massiv wachsen. Die große Frage ist, welche Einflüsse das auf einen europäischen oder amerikanischen Markt hat? Wenn diese großen Wirtschaftsräume durch vernünftige Freihandelsabkommen oder eine gemeinsame Vorgehensweise geregelt werden können, dann wird es Antworten auf solche großen Verschiebungen geben.

 

Ralf Strehlau: Sie sagten, der Online-Handel erreicht irgendwann 100 Prozent Marktanteil. Das führt dazu, dass der stationäre Handel vor allem in den B- und C-Lagen extrem leidet. Was sagen Sie zum Sterben des Einzelhandels in den Randbereichen?

Gero Furchheim: Der E-Commerce hat dem Endverbraucher mehr Macht gegeben und die Zeiten, in denen man sich mit einer unterdurchschnittlichen Leistung verstecken konnte, sind vorbei. Im Handel hat der Wandel aber schon immer eine Rolle gespielt, unter dem vor allem inhabergeführte Geschäfte gelitten haben. In den 60er Jahren kamen die Supermärkte auf, dann folgte die Discounter-Welle. Und der E Commerce hat diesen Wettbewerb noch einmal verschärft. Ich halte ihn trotzdem immer noch für eine fantastische Erfindung, weil Kunden mehr Auswahl, mehr Service und mehr Vergleichbarkeit haben.
Unternehmen, die eigene Strategien entwickelt haben und Dinge ausprobieren, haben durchaus gute Potenziale. Wir sehen zurzeit, dass die Händler mit dem Ursprung im stationären Handel das größte Wachstum im E-Commerce haben. Wettbewerb heißt aber auch Auslese.

 

Ralf Strehlau: Der bevh also als Befürworter von Darwin?

Gero Furchheim: Darwin in der Wirtschaftsordnung wird als Entmachtung der Politik und Primat des ungezügelten Markts verstanden. Dafür stehen wir nicht. Wir sind Befürworter von Wettbewerb im Rahmen einer fairen Wirtschaftsordnung und auf einem ebenen Spielfeld. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die Menschen mitzunehmen, und ich erlebe in meinem eigenen Unternehmen, dass es bei Mitarbeitern Veränderungsbereitschaft und ein großes Potenzial gibt. Das kann gefördert und vorangetrieben werden und dann haben wir eine Situation, wo sich der Wettbewerb mit Menschlichkeit durchaus verbinden lässt.

 

Ralf Strehlau: Kommen wir einmal zur EU-Datenschutzgrundverordnung. Lange hatte das Thema bei vielen unserer Kunden keine Bedeutung und jetzt sind die meisten Unternehmen aufgewacht. Ist das auch im Versandhandel so?

Gero Furchheim: Keine Frage, dieses Thema ist für den Versandhandel wichtig, aber aus unserer Sicht sollte der Fokus auf inhaltlicher Verbesserung liegen und nicht darauf, ein Bürokratiemonstrum zu schaffen, das möglichst viele Seiten Papier befüllt. Im Gesetzestext gibt es Inkonsistenzen, z. B. bei der Regelung, wer ein Verfahrensverzeichnis führen muss, aber auch zahlreiche weitere aufwändige Pflichten, die die Unternehmen ganz unabhängig von ihrer Größe, einhalten müssen.


Ansonsten hat jeder, der das Thema schon in der Vergangenheit ernst genommen hat, einen überschaubaren Umsetzungsaufwand. Die Strukturen für mehr Kontrollen werden nicht schon im Mai, sondern frühestens ab dem Jahr 2020 aufgebaut sein.

 

Ralf Strehlau: Die Novelle in Deutschland vor einigen Jahren hat vieles schon vorweggenommen und diejenigen, die damals ihre Hausaufgaben gemacht haben, haben kaum ein Problem mit der europäischen Harmonisierung.

Gero Furchheim: Genau, es ging um eine Harmonisierung in Europa auf einem Niveau, das für uns Deutsche unproblematisch ist. Wir sehen es aber kritisch, wenn die Verordnung in Deutschland durch Übererfüllungsansprüche zusätzlich verschärft wird. Wenn jetzt noch die E-Privacy-Verordnung hinzukommt, ist die Zulässigkeit des gesamten Online Marketings gefährdet.

 

Ralf Strehlau: Viele Kunden sind kritisch, wenn sie ein Opt-in geben sollen, aber bei Facebook geben sie freiwillig viele Daten preis.

Gero Furchheim: In Bezug auf die Log-In- Giganten kann man jede vernünftige Diskussion mit der Frage steuern, wer die Datenschutzbedingungen von Facebook, Xing etc. einmal komplett gelesen hat. Es gibt aber auch Serviceaspekte. In jedem Einzelhandelsgeschäft freut sich der Kunde, wenn er von der Fachverkäuferin persönlich begrüßt und beraten wird, weil sie seine Vorlieben kennt. Das gleiche haben wir im E-Commerce: Besuchererkennung durch Cookies, individuelle Angebote auf Grund gespeicherter Erfahrungen.

 

Das Verständnis verändert sich und wir müssen darauf achten, dass die Chancen, die in Daten liegen, auch für den Mittelstand und kleinere Händler zugänglich bleiben. Da kommen neue Fragestellungen auf uns zu.

 

Ralf Strehlau: Ich kenne Ihren Verband – damals hieß er noch bvh – seit dem Ende der 90er Jahre. Vor dreieinhalb Jahren haben Sie das “e“ eingeführt. Wie verlief der damit verbundene Veränderungsprozess in Ihrem Verband und welche Empfehlungen leiten Sie daraus ab?

Gero Furchheim: Jeder Verband, der im Gespräch mit der Politik ist, muss eine Legitimation vorweisen können. Wir hatten und haben den Anspruch, unsere Branche zu vertreten. Durch die Veränderungen im Markt drohten wir damals, an Bedeutung zu verlieren. Das haben meine Vorgänger und langjährige Vorstandsmitglieder früh erkannt und auch die Geschäftsführung war bereit, die Herausforderung anzunehmen. Dafür mussten wir bei uns einige „alte Zöpfe“ abschneiden und etwas Geborgenheit an mancher Stelle aufgeben. Andererseits mussten Verbandsstrukturen mit Augenmaß so gestaltet werden, dass die Menschen mitgenommen wurden. Das heißt, gute Traditionen auch weiter zu pflegen. Hier traf eine Welt, in der man es mit klassischen Händlern zu tun hatte, auf einmal auf Betreiber von Plattformen und andere Wertschöpfungsebenen.


Wir haben unser Ziel erreicht und die erforderliche Sichtbarkeit und Relevanz. Wir sind heute stolz darauf, dass wir den Claim „E-Commerce“ auf allen Ebenen des Verbandes mit Leben erfüllt haben.

 

Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Furchheim

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