ERLESEN

Interview: "Auch wenn man Gutes tut, braucht man eine Strategie"

BDU-Präsident Ralf Strehlau spricht im Interview mit Prof. Dr. Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V., über die Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung im Verein und inwiefern auch die Consultingbranche davon lernen kann.

Strehlau: Sie beteiligen als Verein Ihre Zielgruppe direkt, besonders Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen und Senioren. Was bedeutet das? Schutter: Zuallererst: Beteiligung ist eine Bringschuld. Viele Menschen haben Vorbehalte, wenn es darum geht, Kinder oder Menschen mit Behinderung oder nicht äußerungsfähige Menschen zu beteiligen. Oft liegt die vorurteilsbehaftete Meinung vor, ihr Gegenüber könne gar nicht äußern, was es will oder braucht. Aber genau an dem Punkt muss Beteiligung ansetzen. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, die für alle Seiten passenden Formate dafür zu entwickeln.

Wir haben zum Beispiel einen Bewohner/-innenrat für Personen mit Behinderung. Deren Treffen werden von Pädagoginnen und Pädagogen begleitet, um die erforderliche „Übersetzungsarbeit“ zu leisten. Meistens können sich Menschen mit einer geistigen Behinderung gut äußern, sie brauchen nur etwas mehr Zeit. Das Gleiche gilt letzten Endes häufig auch für die Seniorinnen und Senioren, die wir in offenen Angeboten betreuen. Unser Fokus liegt darauf, dass die Beteiligten sich aktiv einbringen können, was sie brauchen und natürlich auch, was sie nicht wollen. Wichtig ist, dass ihre Wünsche gehört werden.

Wenn wir von Beteiligung sprechen müssen Worten Taten folgen. Wir haben bei SOS-Kinderdorf zum Beispiel den Kinder- und Jugendrat, in den sich die Kinder und Jugendlichen wählen lassen können. Der Vorstand des Rates steht regelmäßig mit mir im Austausch. Das heißt, wir treffen uns einmal pro Monat und die Jugendlichen können mir mitteilen, was sie stört. Selbst wenn es manchmal nur um Kleinigkeiten geht, so entsteht bei den Jugendlichen immer das Gefühl, dass ihr Thema bei der Vorständin ankommt. Wenn ich sage, dass ich mich um besseres Internet kümmere und einen Monat später ist es immer noch schlecht, dann bekomme ich sehr kritische Stimmen zu hören.

 

Strehlau: Warum ist Beteiligung aus Ihrer Sicht eine Bringschuld und was können Consultants daraus lernen? Schutter: Ganz häufig werden Vorwände gesucht, warum Beteiligung nicht möglich ist. Auch in Unternehmen. Hier spielt vor allem der Faktor Zeit eine Rolle, denn natürlich dauert eine Entscheidung oft länger, je mehr Personen daran mitwirken.
Unsere Erfahrung aber zeigt: Wenn die Menschen sich bei uns nicht beteiligt fühlen, dann äußern sie sich nicht, wenn etwas schiefläuft. Besonders für Kinder ist es wichtig zu wissen, dass wir aktiv werden, wenn sie sich melden und über Missstände berichten oder Wünsche äußern. Insofern ist Beteiligung spätestens dann eine Bringschuld. Aus meiner Sicht gilt das gleichermaßen für die Arbeitswelt. Es sollte eher ein Anlass zur Sorge sein, wenn Mitarbeitende passiv bleiben. Dann haben sie wahrscheinlich vorher zu oft die Erfahrung gemacht, dass ihre Meinung nicht zählt. Oder dass es negative Konsequenzen hat, wenn sie etwas äußern. Dann muss ich mich als Führungskraft fragen, wo und wie ich in meinem Unternehmen Abhilfe schaffen kann.

 

Strehlau: Auch die soziale Nachhaltigkeit ist ein großer Aspekt Ihrer Arbeit. Wie wird dies im Alltag umgesetzt? Schutter: Wir haben viele Angebote, die sich in belasteten Sozialräumen befinden. In vielen Städten klafft das Gefälle zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Und je weniger beide Parteien miteinander in Kontakt treten, desto schneller entstehen Vorurteile, Aggressionen und Ablehnung. Wir versuchen mit unseren offenen Angeboten dagegen zu arbeiten. In solchen Situationen muss man auch aushalten, dass Gruppen unterschiedlich sind und verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legen. Das stärkt den sozialen Zusammenhalt und damit die soziale Nachhaltigkeit. Je weiter sie auseinanderdriften und je weniger die Menschen aufeinander achten, desto kaputter wird der Sozialraum. Natürlich kann man in dem Sozialraum auch leben, aber die Menschen, die weniger Ressourcen mitbringen, die vielleicht nicht gut Deutsch sprechen, die weniger Geld haben, das sind diejenigen, die darunter leiden, wenn Sozialräume auseinanderdriften. Unsere Aufgabe ist es, diese Verbindung herzustellen, Verständnis füreinander zu schaffen und damit die soziale Nachhaltigkeit zu fördern.

 

Strehlau: Wie können Führungskräfte soziale Nachhaltigkeit in den Arbeitsalltag integrieren? Schutter: Ein Beispiel in Unternehmen ist die betriebliche Sozialarbeit. Hat eine Person im Unternehmen soziale Probleme durch Sucht, Überbelastung oder auch gesundheitliche Probleme, kann diese sich an Anlaufstellen im Unternehmen wenden. Gleichzeitig müssen Führungskräfte hohe Aufmerksamkeit für ihr Team mitbringen – und selbstkritisch agieren. Die meisten Führungskräfte kommen eher aus Bildungsbürgerhaushalten, haben keinen Migrationshintergrund und hatten es meist auch relativ einfach in ihrer beruflichen Biografie. Aber vielleicht haben sie Mitarbeitende, die es nicht immer so einfach hatten. Führungskräfte sollten eine gewisse Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheiten und gleichzeitig Offenheit für alle im Team mitbringen, um auch immer die gesamte Belegschaft mit einbeziehen zu können.

Wir dürfen nur nicht übersehen, von Anfang an transparent zu machen, wo wir beteiligen und wo nicht. Mein Eindruck von außen ist, dass viele Führungskräfte sagen, sie haben einen beteiligungsorientierten Führungsstil, weil die Mitarbeitenden das heute so wollen. Aber es gibt auch Prozesse, die man als Führungsperson nicht transparent machen darf. Auch das sollte den Mitarbeitenden kommuniziert werden, um Frustration zu vermeiden.

 

Strehlau: Um das Thema Corona kommt man ja in der aktuellen Zeit gar nicht drum herum… Inwiefern hat die Pandemie Ihren Verein beeinflusst und tut es vielleicht immer noch? Schutter: Zum einen haben wir durch den Lockdown einen Anstieg an Inobhutnahmen und Kinderschutzfällen registriert. Zum anderen sind wir in unserer täglichen Arbeit weiterhin in einer Art Dauerkrisenmodus. Auch wenn die Pandemie einigermaßen ausgelaufen ist, haben wir aktuell bei den Kindern und den Betreuer/-innen große Infektwellen, sodass teilweise kaum noch jemand da ist, um die Betreuung zu übernehmen. Das ist tatsächlich immer noch eine ziemlich belastende Situation für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Außerdem haben wir viele Mitarbeitende verloren, die durch Krankheit oder Krisenphasen grundsätzlich ihr Leben verändern und unter der Belastung nicht mehr weiter in der Branche arbeiten wollten.
Bei den Kindern ist das Problem, dass wir teilweise keine Plätze in der psychologischen oder psychiatrischen Betreuung finden. Das ist eine Herausforderung, die wir nach wie vor meistern müssen.

Aber wir hatten auch positive Entwicklungen. Zum Beispiel konnten wir in der Pandemie Pädagoginnen und Pädagogen zur Bildungsunterstützung einsetzen und so vielen jungen Menschen mit schwierigen Lernbedingungen sogar einen Bildungsvorsprung verschaffen. Also gerade Kinder und Jugendliche, die eher Angst vor der Schule hatten, die schuldistanziert waren, die sich vielleicht in den sozialen Gruppen in der Schule unwohl gefühlt haben und die jetzt nach der Pandemie wieder besser zurückfinden.

 

Strehlau: Aktuell ist die nächste Krise in vollem Gang: Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für Ihre Organisation? Schutter: Die Kinderdörfer in der Ukraine wurden in den Westen der Ukraine evakuiert, wo derzeit weniger Kriegsgeschehen stattfindet. Nach wie vor sind allerdings viele Kinderheime in der Ukraine überlastet. Das gilt nicht nur für unsere Einrichtungen, sondern auch für diejenigen anderer Organisationen. Dazu kommt, dass teilweise die Arzneimittelversorgung nicht gewährleistet ist, oder medizinische Gerätschaften und Betreuungskräfte fehlen. Wir haben Tablets für Kinder vor Ort für den Schulunterricht gespendet, große Sachspendenaktionen durchgeführt und in Deutschland ukrainische Familien aufgenommen. Das Bundesfamilienministerium konnten wir bei der Evakuierung von Waisenheimen in der Ukraine unterstützen.
Jetzt ist es wichtig, die Situation nicht aus den Augen zu verlieren und daran zu denken, dass Infrastrukturen komplett zusammengebrochen sind und es den Menschen vor Ort am Nötigsten fehlt: Wärme, Energieversorgung, Nahrung, medizinische Betreuung.

 

Strehlau: Haben Sie manchmal das Gefühl auch von Unternehmen im Rahmen von ESG-Aktivitäten ausgenutzt zu werden? Schutter: Wir kriegen viele Anfragen für Social Days, die können wir nicht alle bedienen. Wir haben klare Guidelines, wie wir mit Unternehmenspartnern zusammenarbeiten. Wir versuchen immer, nachhaltige Projekte in konkreten Projektpartnerschaften zu entwickeln, bei denen sowohl der Unternehmenspartner etwas davon hat, aber auch den Menschen konkret und nachhaltig geholfen werden kann.

 

Strehlau: Haben Sie schon mit Beratungen zusammengearbeitet? Wie waren Ihre Erfahrungen? Schutter: Auch wenn man Gutes tut, benötigt man eine Strategie oder muss seine digitalen Prozesse optimieren, zum Beispiel für die Abstimmungsprozesse mit den Jugendämtern. Und da ist es tatsächlich sehr sinnvoll, wenn man sich immer mal wieder von außen einen Rat und die damit verbundene neutrale, unabhängige Sichtweise von Consultants einholt. Wie wirken wir in unserer Strategie? Wo können wir besser werden? Wo können wir mehr Traktion erzeugen? Wenn wir wichtige strategische Entscheidungen treffen müssen, dann investieren wir auch in Beratung. Denn: Die Verantwortung für Menschen zu übernehmen, ist genauso wichtig wie Verantwortung für Produkte zu übernehmen. Da sind wir in gleichem Maße aufgefordert und verpflichtet, gute Leistungen zu erbringen. Und dafür brauchen wir mitunter auch eine Beratung.

 

Strehlau: Sehr geehrte Frau Schutter, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.

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