Organisations- und Prozessmanagement

Logistik: „Wir müssen halten, was der Vertrieb verspricht“ – stimmt.

Der Vertrieb ist für die erste Zeile der Gewinn- und Verlustrechnung verantwortlich: für den Umsatz. Ohne Umsatz aber kein Gewinn. Selbstverständlich sind die anderen Abteilungen auch wichtig, aber das konsensgetriebene Statement „wir sind doch alle gleich wichtig“ ist falsch.

Diejenigen Leser unter Ihnen, die regelmäßig unsere Veröffentlichungen, Fachartikel, Bücher über das Schaffen profitablen Wachstums lesen, wissen, dass wir der Überzeugung sind, dass der Vertrieb die wichtigste Unternehmenseinheit ist. Bringt dieses klares Statement auch regelhaft Bereichsleiter auf die vielzitierte Palme, können wir unsere Position aus der Erfahrung von einigen Hundert Projekten mühelos verteidigen. Ein schlechtes Produkt oder eine schlechte Leistung lässt sich mit einem guten Vertrieb verkaufen – auch, wenn dies nicht erstrebenswert ist –, ein gutes Produkt mit einem schlechten Vertrieb aber nicht.

Dies vorausgeschickt müssen wir dem Vertrieb allerdings auch Schranken aufzeigen, wenn er dazu übergeht, zu viel zu versprechen, wissend – oder auch nur ahnend –, dass dieses Versprechen nicht gehalten werden kann. Genau an dieser Stelle treten häufig erhebliche Konflikte mit der Logistik auf, die sich in manchen Unternehmen fast schon in routineartigen, ritualhaften Auseinandersetzungen ausdrücken. Dies liegt häufig vor allem daran, dass dem Vertrieb bedingungslose Zielgrößen auferlegt werden, wie zum Beispiel das Erreichen eines bestimmten Umsatzes, ohne die mit dem Vertrieb verbundenen Abteilungen zu berücksichtigen. Dies liegt auch daran, dass Schnittstellen, trotz anderem Bekunden, häufig nicht definiert sind und „auf Zuruf“ erfolgen. „Auf Zuruf“ bedeutet aber, dass eine Schnittstelle überhaupt nicht existiert. „Auf Zuruf“ funktioniert nämlich regelhaft nicht. Die Konflikte zwischen Vertrieb und Logistik und die mitunter resignierend vorgetragene Haltung „jetzt müssen wir wieder das halten, was der Vertrieb versprochen hat“ durch die Logistik resultieren aus der guten Absicht des Vertriebs, möglichst viel Markt zu machen, möglichst viele Kunden zu akquirieren und möglichst vielen Kunden möglichst vieles zu verkaufen. Und, ja, es stimmt: die Logistik muss das halten, was der Vertrieb verspricht, aber es ist niemandem verboten, sich zuvor über das mögliche Versprechen abteilungsübergreifend miteinander abzustimmen. Hier folgen drei Beispiele aus unserer Beratungspraxis:

Beispiel 1: Pharma-Großhandel

Der Pharma-Großhandel stellt, von uns Konsumenten nahezu unbemerkt, sicher, dass die Apotheken angemessen bevorratet sind. Er sorgt auch dafür, dass wir als Patienten, wenn wir in einer Apotheke ein Medikament nicht sofort bekommen, einige Stunden später wiederkommen können, um das dann gelieferte Medikament zu erhalten. Der Pharma-Großhandel erbringt dabei eine enorme logistische Leistung. Natürlich möchten alle Apotheken morgens zur Eröffnung die Ware vorliegen haben und natürlich möchten auch alle Apotheken, dass ein fehlendes Medikament möglichst unverzüglich durch den Pharma-Großhandel geliefert wird. Geregelt wird die Belieferung der Apotheke in dem Abkommen, das zwischen dem Vertrieb des Pharma-Großhandelsunternehmens und dem Eigentümer der Apotheke geschlossen wird.

In einem Beratungsprojekt zur Erarbeitung und Realisierung einer neuen Vertriebsstrategie im Pharma-Großhandel stießen wir auf die Konflikte, die entstanden, wenn der Vertrieb ohne Abstimmung mit der Logistik Vereinbarungen mit bestehenden oder neuen Kunden (Apotheken) schloss: Touren wurden plötzlich unrentabel, Serviceleistungen wurden nicht extra vergütet, kosteten aber viel Geld und die Kommissionierung litt unter Rentabilitätseinbußen. Der Vertrieb, mit der Botschaft in den Markt geschickt, Marktanteile zu generieren, schloss zwar neue Abkommen, diese konnten aber letztlich in der Logistik nicht erfüllt werden. Die Folge: maßlose Enttäuschung bei neuen Kunden, Verärgerung bei bestehenden Kunden, Marktanteilseinbußen. Eine unserer ersten Maßnahmen war es, einen strukturierten Dialog zwischen Vertrieb und Logistik herzustellen, um auf ganz konkreter Basis von Tourenplänen, logistischen Leistungen, Personaleinsatzplänen, Kostenanalysen mit dem Vertrieb zu diskutieren, welches Leistungspaket welchem Kunden angeboten werden konnte. Dieser strukturierte Dialog, der sich nach und nach routinierter darstellte, half dem Vertrieb, seine Akquisitionsmaßnahmen wirksamer zu planen, nur das zu versprechen, was gehalten werden konnte und somit Stück für Stück Marktanteile zu gewinnen.

Beispiel 2: Filialisierter Einzelhandel

Den Filialleitern eines Einzelhandelsunternehmen mit einigen Hundert Filialen wurde seitens der Filialbetreuung eine größtmögliche Serviceleistung durch die eigene Logistik versprochen. Der Webfehler: Mit der Logistik wurde darüber zuvor nicht geredet. Die Folge: Ware kam zu spät, die Anlieferungen deckten sich nicht mit den Personaleinsatzplänen der Filialen, Aktionen wurden zu spät oder gar nicht gestartet, die Logistikkosten schraubten sich in enorme Höhen. Ganz davon abgesehen war auch die Datenbasis im Warenwirtschaftssystem des Unternehmens gänzlich unzulänglich. Unser Mandat bezog sich darauf, die Auslagerung der Logistik zu prüfen und bei dieser Gelegenheit haben wir auch den Dialog zwischen Filialen und Logistik auf ein neues Niveau gestellt. Auch hier galt es im wesentlichen, den strukturierten Dialog zwischen Filialbetreuung und Logistik herzustellen, um keine falschen Erwartungen zu wecken und bei allem erforderlichen Servicegrad auch eine Rentabilitätssicherung zu gewährleisten. Der später gefundene Logistikpartner setzte diesen Dialog konsequent fort.

Beispiel 3: produzierendes Unternehmen

In einem von uns betreuten produzierenden Unternehmen herrschte die geheime Regel „wir holen jeden Auftrag, auch, wenn wir noch nicht genau wissen, wie wir ihn abbilden können, denn wenn wir den Auftrag erstmal im Hause haben, werden wir es schon richten.“ Dies ist eine in vielen Unternehmen existierende, unausgesprochene Regel im Vertrieb, die ebenso regelhaft zu katastrophalen Situationen führen kann, bis hin zur Existenzbedrohung des gesamten Unternehmens. In diesem Beispiel stimmte gar nichts: die Informationslogistik vom Vertrieb in die operativen Bereiche funktionierte nicht, die Beschaffungslogistik funktionierte nicht, weil der Vertrieb nicht rechtzeitig die erforderlichen Informationen ins Unternehmen gab, so dass Stücklisten produziert werden konnten und die Produktionslogistik funktionierte auch nicht, weil der Vertrieb durch das Einstellen neuer Prioritäten immer wieder für Chaos in der Produktion sorgte. Ich erinnere mich noch gut an ein Krisenmeeting, das erforderlich wurde, weil ein Kunde zu einer Abnahme erscheinen wollte, die ganz offensichtlich nicht möglich war. Schuldzuweisungen aller Orten: der Vertrieb ärgerte sich maßlos, der Einkauf schimpfte auf den Vertrieb, die Produktion ebenso und die Unternehmensführung saß inmitten dieses Schlamassel.

Es ist uns gelungen, nicht nur dieses Krisenmeeting zu meistern und zumindest für eine Teilabnahme zu sorgen, sondern das Unternehmen hat auch erkannt, dass es definierter Schnittstellen und Prozesse bedarf, die den Akquisitionsprozess mit den internen Möglichkeiten abgleichen. Diese Prozesse haben wir gemeinsam definiert und eingeführt, seitdem ist zumindest in vielen Fällen eine deutliche Besserung eingetreten.

Jawohl, die Logistik muss das halten, was der Vertrieb verspricht. Das darf aber nicht dazu führen, dass die Logistik in der Opferrolle ist, denn auch ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Viel intelligenter ist es, das enorme Prozess-Know-how der Logistik zu nutzen und mit dem Markt-Know-how des Vertriebs zu verbinden. Dann wird aus unausgesprochenen Gegnern plötzlich ein schlagkräftiges Doppel.